Paulette. Ein Film von Jérôme Enrico. Kinostart: 18. Juli 2013 - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kunst + Kultur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 17.07.2013


Paulette. Ein Film von Jérôme Enrico. Kinostart: 18. Juli 2013
Sabine Reichelt

Bernadette Lafont, Star der Nouvelle Vague, glänzt in dieser Komödie über eine Rentnerin, die zur Drogendealerin wird, um sich aus der Armut zu retten. Das grandiose Drehbuch verbindet gekonnt ...




... Humor und Sozialkritik.

Das Sein bestimmt das Bewusstsein, wusste schon Karl Marx. Das gilt auch für Sein und Bewusstsein von Paulette. Die 80-Jährige lebt in der Banlieue am Existenzminimum. Verwitwet erhält sie die Mindestrente und die reicht weder hinten noch vorn. So ist die alte Frau Stammgast bei allen Marktständen, die kleine Kostehäppchen anbieten, und durchwühlt am Abend Berge mit Resten von Obst und Gemüse nach Essbarem. Paulette ist Opfer.

Aber Paulette ist auch Täterin. Das nun von chinesischen Besitzer_innen geführte Lokal, das sie früher als Brasserie betrieb, infiziert sie regelmäßig mit Kakerlaken und glaubt, ihre Schuld sei mit dem wöchentlichen Beichtgang abgegolten. In der Kirche belästigt sie den Schwarzen Priester mit ihren kruden rassistischen Theorien zur Erklärung des eigenen Elends und findet ihn so nett, dass er es "verdient hätte, weiß zu sein." Die an Demenz erkrankte Freundin nennt sie "Alzheimer". Am schärfsten aber ist ihr Rassismus gegenüber ihrem kleinen Schwarzen Enkel, auf den sie erzwungenermaßen immer wieder aufpasst.

Als der Gerichtsvollzieher ihre Wohnung ausräumt, weil sie die Rechnungen der letzten Monate nicht bezahlt hat, beschließt Paulette, dass sich etwas ändern muss: Sie wird Drogendealerin. Tough und äußerst geschäftstüchtig stürzt sie sich ins Geschehen und findet bald eine Marktlücke, die sie mit Haschisch-Keksen füllt. Ihre Geschäftsidee ist ein voller Erfolg. Außerdem hilft ihr in der Dealerszene die weitverbreitete Ansicht, alte Menschen seien per se ein bisschen bekloppt, aber dafür harmlos. Ihrem Schwiegersohn, einem Polizisten, kann Paulette ohne Bedenken die Wahrheit über die Ursache für ihren plötzlichen Reichtum sagen, er hält sie ja doch nur für einen gelungenen Scherz. Die finanzielle Lage verbessert sich und mit ihr verändern sich Paulettes Einstellungen. Die zuvor so bösartige Frau wird milder, umgänglicher, lebensfroher.

In der Kürze und Pointiertheit der Komödie wird hier – stark gerafft und vereinfacht – verdeutlicht, was Soziolog_innen und Sozialpsycholog_innen durch Studien belegen konnten: Prekäre Lebensbedingungen begünstigen Menschenfeindlichkeit. Sie entschuldigen sie zwar nicht, aber sie fördern sie. Schließlich ist es nicht allzu schwer, freundlich und vergnügt zu sein, wenn mensch genügend Geld auf dem Schweizer Bankkonto, einen Jaguar im Carport hat und die einzige Sorge daraus besteht, dass das Wasser im hauseigenen Pool angenehm temperiert ist.

Dank Geld und sozialer Kontakte kann Paulette (Bernadette Lafont) nun wieder teilhaben am gesellschaftlichen Leben und mit ihr die Freundinnen (Carmen Maura, Dominique Lavanant und Françoise Bertin), die kurzerhand in das Geschäft mit eingestiegen sind. Auch diesen vier, im Wortsinn ausgezeichneten Darstellerinnen ist es zu verdanken, dass der Kinobesuch zum wahren Vergnügen wird. Alle besitzen sie ein grandioses komisches Talent und begeben sich mit großer Spielfreude in jede neue Szene. Während Lavanant und Bertin vor allem dem französischen Theaterpublikum bekannt sind, ist Maura wohl besonders der Almodóvar-Kennerin ein Begriff. Sie spielte u.a. 1988 in seiner Komödie "Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs" und 2006 in "Volver".

Zum Regisseur: Jérôme Enricos Karriere beim Film begann als Schauspieler in einem Film seines Vater, Robert Enrico. Ab 1981 arbeitete er zunächst als Regieassistent, bevor er 2000 seinen ersten Spielfilm drehte: "L´origine du monde", für den er mehrere Preise gewann. Neben seiner Arbeit als Regisseur für Film und Fernsehen leitet Enrico die Schreibwerkstatt an der renommierten École supérieure d´études cinématographiques (ESEC) in Paris. (Informationen des Verleihs)

Zur Hauptdarstellerin: Bernadette Lafont wurde 1938 geboren und drehte bereits ganz früh mit den Großen des französischen Kinos: François Truffaut ("Les mistons", 1957, "Une belle fille comme moi", 1972) und Claude Chabrol ("Le beau Serge", 1958, "Les bonnes femmes", 1960) entdeckten sie für die Nouvelle Vague. Als beste weibliche Nebendarstellerin in Claude Millers "L´Effrontée" erhielt sie 1986 den César. 2003 wurde Bernadette Lafont mit dem Ehren-César für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. (Informationen des Verleihs)

AVIVA-Interview mit Bernadette Lafont: deutsche Fassung, version française (2013)

AVIVA-Tipp: Enrico verbindet in seinem Film gekonnt Kritik an politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen mit dem Genre der Komödie. So sind Figuren, Dialoge und Handlung natürlich überzeichnet, die prekäre Lebensverhältnisse und Feindseligkeit existieren aber in der Realität. Dabei sind auch in Deutschland besonders Frauen, die für die Familie einst ihren Beruf aufgegeben haben, von Altersarmut betroffen.
Und doch bleibt ein Kritikpunkt am Film: Warum wird nicht differenzierter damit umgegangen, dass sich Paulette im Alter von 80 Jahren noch einmal ein eigenes Geschäft aufbauen und arbeiten muss, um gut zu leben? Denn eigentlich sollte der Staat dafür sorgen, dass ältere Menschen, gesichert durch eine angemessene Rente, nicht in Armut leben müssen. Sie dürfen dabei nicht auf ihr eigenes marktwirtschaftliches Geschick angewiesen sein.

Paulette
Frankreich 2012
Regie: Jérôme Enrico
Drehbuch: Bianca Olsen, Laurie Aubanel, Cyril Rambour, Jérôme Enrico
Darsteller_innen: Bernadette Lafont, Carmen Maura, Dominique Lavanant, Françoise Bertin, André Penvern, Ismaël Dramé, Jean-Baptiste Anoumon, Axelle Laffont, Paco Boublard
Kamera: Bruno Privat
Produktion: Ilan Goldman
Koproduktion: Catherine Morisse-Monceau
Produktionsleitung: Cathy Lemeslif
Szenenbild: Christophe Thillier
Kostüm: Agnès Falque
Musik: Michel Ochowiak
Ton: Jean-Luc Rault Cheynet
Tonschnitt: Raphaël Sohier, Brunon Reiland
Mischung: Thierry Lebon
Länge: 87 Minuten
Verleih: Neue Visionen
Kinostart: 18. Juli 2013
www.paulette-film.de
www.youtube.com

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Volver (mit Carmen Maura, 2007)

25 Grad im Winter (mit Carmen Maura, 2005)

Weitere Informationen:

Wilhelm Heitmeyers Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit: www.berlin.de (2005)



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Beitrag vom 17.07.2013

Sabine Reichelt